Hinterbliebene der tödlichen Flutkatastrophe im Ahrtal wollen die Einstellung der Ermittlungen nicht hinnehmen. Jetzt richten sie einen Appell an den neuen Ministerpräsidenten.

Koblenz |

Im Kampf um die Wiederaufnahme von Ermittlungen wegen der Flutkatastrophe im Ahrtal wenden sich Hinterbliebene an den neuen Ministerpräsidenten Alexander Schweitzer (SPD). Man fordere Schweitzer auf, «entsprechend jetzt tätig zu werden, um klar dafür zu sorgen, dass hier ein rechtsstaatliches Verfahren betrieben wird - frei von jeglicher Willkür», sagte der Anwalt einiger Hinterbliebener, Christian Hecken, in Koblenz.

Er vertritt unter anderen die Familie Orth, deren Tochter Johanna bei der Flut starb, und Werner Michael Minwegen, der beide Eltern verlor.

Man setze Schweitzer eine Frist bis zum 25. Oktober. Ein Zeitraum von einem Monat sei zumutbar, um sich einzuarbeiten, sagte Hecken. Schweitzer habe die Verpflichtung «dafür zu sorgen, dass hier in Rheinland-Pfalz kein Chaos mehr herrscht, sondern nach Recht und Gesetz entschieden und diese Flutkatastrophe aus dem Jahr 2021 jetzt endlich mal aufgearbeitet wird.»

Vor allem solle Schweitzer sich anschauen, warum der Justizminister von Rheinland-Pfalz sich «überhaupt nicht in der Verantwortung sieht».

Jeden der 135 Fälle einzeln prüfen

Die Hinterbliebenen wollen nicht hinnehmen, dass die Staatsanwaltschaft Koblenz die Ermittlungen wegen der tödlichen Flutkatastrophe mit 135 Toten eingestellt hat. Eine umfassende Beschwerde dagegen wurde bereits eingereicht. Sachverständige zum Katastrophenschutz, zum Gefahrenabwehrrecht und zur Hydrologie (Wasserwissenschaft) hätten Gutachten erstellt, die auch mit neuen Erkenntnissen belegten, dass die Ermittlungen zwingend wieder aufgenommen werden müssten, sagte Hecken.

Zudem liege ein «schwerwiegender methodischer Fehler» vor: «Es kann nicht sein, dass man als Staatsanwaltschaft alle 135 Fälle über einen Kamm schert und alle Fälle gleich beurteilt.» Man müsse sich jeden Einzelfall einzeln im Detail anschauen. «Und das hat bislang kein Mensch gemacht. Das ist in der Tat erschreckend», sagte Hecken. 

Es wurde nicht gewarnt

Hydrologe Erwin Zehe vom Karlsruher Institut für Technologie sagte, die Einstellung der Ermittlungen sei nicht vertretbar. Nach einer Prognose sei die Katastrophe am 14. Juli 2021 bereits ab 14.22 Uhr absehbar gewesen. Und nach einer Prognose um 20.45 Uhr sei klar gewesen: «Das ist Armageddon», sagte Zehe. Er sei «ratlos», wieso diese Informationen nicht kommuniziert worden seien.

Hecken fügte hinzu: Es sei offensichtlich, dass Opfer heute noch leben würden, wenn sie gewarnt worden wären.

Die Staatsanwaltschaft Koblenz hatte im April verkündet, die Ermittlungen zur Flutkatastrophe 2021 einzustellen. Zuvor hatte sie gegen den Ex-Landrat Jürgen Pföhler (CDU) und einen Mitarbeiter des Krisenstabs unter anderem wegen der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen ermittelt. 

Die Behörde kam nach umfangreichen Ermittlungen unter anderem zu dem Schluss, dass es sich um eine außergewöhnliche Naturkatastrophe gehandelt habe, deren extremes Ausmaß für die Verantwortlichen des Landkreises Ahrweiler nicht konkret vorhersehbar gewesen sei. Es gebe keinen hinreichenden Tatverdacht gegen die beiden. Tausende Häuser wurden zerstört, Straßen und Brücken weggespült. 

Hinterbliebene wollen einen Prozess

Hecken kritisierte, nach der Beschwerde noch nichts von der Staatsanwaltschaft gehört zu haben. Wann die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz über die Beschwerde gegen die Einstellung der Ermittlungen entscheiden wird, ist unklar.

Die Dauer des Verfahrens könne «mit Blick auf den außerordentlichen Umfang des Verfahrenskomplexes, der mehrere zehntausend Seiten umfasst, und der Tatsache, dass hierzu die gesamten Akten einschließlich der Beweismittel zu sichten sind», derzeit nicht abgeschätzt werden, teilte die Behörde auf Anfrage mit.

Ralph Orth, der bei der Flut seine Tochter verlor, sagte: «Es muss eine Notwendigkeit sein, dass dieser Fall vor ein Gericht kommt.» Dadurch, dass die Staatsanwaltschaft bei der Einstellung des Verfahrens quasi diesen Weg abschneide, versage sie vor allem Opfern und Angehörigen «eine absolute Transparenz und einen Rechtsglauben». Es gebe «ganz klare Indizien, die dafür sprechen, dass das Ganze zu einem öffentlichen Verfahren führen muss»