Andrea Nahles (53) ist seit dem 1. August 2022 Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit. Sie war von April 2018 bis Juni 2019 SPD-Parteivorsitzende und von September 2017 bis Juni 2019 Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion.
Zuvor war sie von Dezember 2013 bis September 2017 Bundesministerin für Arbeit und Soziales und von November 2009 bis Dezember 2013 SPD-Generalsekretärin. Von Oktober 1998 bis Oktober 2002 sowie von Oktober 2005 bis Oktober 2019 war sie Mitglied des Deutschen Bundestages und von September 1995 bis Mai 1999 Bundesvorsitzende der Jusos. Wir trafen Andrea Nahles zum Interview. Sie hat Ihr Lebensumfeld nach wie vor in Weiler/Eifel.
Seit Ihrem Amtsantritt als Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit im August 2022: Was empfinden Sie als größten Unterschied zur Bundespolitik?
Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass ich jetzt für die Umsetzung der Gesetze verantwortlich bin, die ich einst mitgestaltet habe. Die Komplexität der Implementierung in konkrete Maßnahmen war mir früher nicht so bewusst. Besonders die Bedeutung klarer Begrifflichkeiten ist mir jetzt klarer; sie würden die Umsetzung erheblich erleichtern. Daran sieht man auch den großen Unterschied: Als Politikerin musste die grobe Richtung festgelegt werden. Wo soll’s hingehen? Dann passend dazu ein Gesetz, das halbwegs greift. Zu meiner Zeit als Ministerin habe ich 42 Gesetze erlassen und unter anderem den Mindestlohn eingeführt. Und jetzt auf der anderen Seite in der Behörde mit 113.000 Beschäftigten, da muss es halt sehr klar sein, was jeder zu tun hat.
Wie haben Sie den Übergang von der aktiven Politik in den Verwaltungsapparat erlebt?
Ich war ja nach meinem Rücktritt erstmal bei der Bundesanstalt für Post und Telekommunikation in Bonn. Das ist eine sehr kleine Behörde mit 1500 Leuten. Dieser Wechsel war eine Gelegenheit zum Lernen und zur Anwendung meiner Fähigkeiten in einem neuen Umfeld. Und dann der Wechsel nach Nürnberg. Obwohl die Rolle eine weitere Anpassung erforderte, fand ich, dass meine Erfahrungen in Mitarbeiterführung und Komplexitätsmanagement in all meinen Jobs vorher nützlich waren. Die geringere öffentliche Sichtbarkeit in meiner jetzigen Position empfinde ich als Befreiung und ermöglicht mir eine selbstbestimmtere Arbeit. Im Übrigen: Die Bundesagentur verbraucht fast, neben der Rentenversicherung, das meiste Geld des Bundes. Wir zahlen unter anderem an die Arbeitslosen, zahlen das Kindergeld, und das Kurzarbeitergeld aus, rund 47 Milliarden €. Ich muss im Haushaltsausschuss oder im Ausschuss für Arbeit und Soziales Rechenschaft ablegen.
Wie sieht eine normale Arbeitswoche für Sie aus?
Meine Aufgaben sind vielfältig und erfordern ein hohes Maß an Führung. Ich arbeite nun seltener am Wochenende und versuche, montags von zu Hause aus zu arbeiten, was mir hilft, Beruf und Familie besser zu vereinbaren. Mein Wochenplan beinhaltet regelmäßige Reisen zwischen Weiler, Nürnberg und Berlin, um den vielfältigen Verpflichtungen der Bundesagentur nachzukommen. Einmal im Monat besuche ich eine Agentur oder ein Jobcenter, um direktes Feedback zu erhalten und die Situation vor Ort zu verstehen. Ich war jetzt in Lübeck und in Braunschweig. Aus meiner Sicht lernst du auch als Chefin immer viel davon, wenn du vor Ort mal guckst, wo drückt wirklich der Schuh? Die Leute haben auch gemerkt, dass sie mit mir offen reden können. Das wird wertgeschätzt, das habe ich gemerkt.
Welche Herausforderungen sehen Sie für den deutschen Arbeitsmarkt, insbesondere hinsichtlich Migration?
Der Fachkräftemangel stellt eine signifikante Herausforderung dar, kompliziert durch die Diskrepanz zwischen offenen Stellen und Arbeitslosigkeit. Probleme wie regionale Unterschiede, Qualifikationsdefizite und demografische Veränderungen erfordern komplexe Lösungen, einschließlich der Förderung von Zuwanderung, um den Bedarf an Fachkräften zu decken. Ein Beispiel: Es werden, wenn du zehn offene Stellen hast, acht Fachkräfte gesucht. Wir haben bei den Arbeitslosen 70 Prozent, die keine gute Qualifikation oder gar keinen Berufsabschluss mitbringen. Die Wahrscheinlichkeit, ohne Berufsabschluss arbeitslos zu sein ist 19,8 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit mit Berufsabschluss arbeitslos zu sein 2,8 Prozent. Und alleine an diesen Zahlen sieht man, dass für junge Leute eine Berufsausbildung für den ganzen Lebensweg so wichtig ist.
Und Inklusion: Wie beurteilen Sie die Möglichkeiten, Menschen mit Behinderungen in das Arbeitsleben zu integrieren?
Es gibt ein erhebliches ungenutztes Potenzial, Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Viele Arbeitgeber erkennen den Wert dieser Mitarbeiter nicht und übersehen die Loyalität und Engagement, die sie bringen können. Eine gezielte Unterstützung und die Bereitschaft, diesen Menschen eine Chance zu geben, sind entscheidend. Wir unterstützen diesen Prozess sehr intensiv… und gerne.
Was ist Ihre Vision für die Zukunft der Bundesagentur für Arbeit?
Angesichts des bevorstehenden Ruhestands vieler Mitarbeiter, von unseren 113.000 Mitarbeitenden werden bis 2032 40.000 in den Ruhestand gehen, prüfen wir: Wo können wir Sachen besser und effizienter organisieren und vor allem aber automatisieren. Wir haben bereits 70 verschiedene Dienstleistungen digitalisiert, dieser Prozess wird permanent weiterentwickelt. Zudem sehe ich die Bundesagentur als wichtigen regionalen Akteur, der durch Zusammenarbeit in der Wirtschaftstransformation und bei der Gestaltung des Arbeitsmarktes eine zentrale Rolle spielt.
Fühlen Sie sich in Ihrer aktuellen Rolle einflussreicher als in der Politik?
Mein Einfluss hat sich verändert. In der Politik lag der Fokus auf legislativen Entscheidungen wie der Einführung des Mindestlohns. Jetzt, näher am tatsächlichen Wirtschaftsgeschehen, trage ich auf andere Art zur Gestaltung des Arbeitsmarktes bei.
Vielen Dank für das Gespräch.
Fragen: Burkhard Hau & Florian Schulze