Jörg Müller im Interview: Seit Januar 2025 leitet er das Jugendhilfezentrum Bernardshof in Mayen. Er spricht über seine Vision für die Jugendhilfe, die Herausforderungen im System und warum Beziehungen die Basis für nachhaltige Veränderungen sind. Ein Blick auf die Zukunft der Jugendhilfe.

Mayen |

Jörg Müller ist seit Januar 2025 offiziell Direktor des Jugendhilfezentrums Bernardshof in Mayen. Doch für das Haus, das Team und die Kinder ist er längst eine vertraute Konstante. Bereits 2024 übernahm der erfahrene Pädagoge die Bereichsleitung – eine Phase, in der er nicht nur intensive Einblicke in den Alltag der Einrichtung gewann, sondern auch gezielt auf die Nachfolge von Marko Boos vorbereitet wurde. Heute leitet er das rund 250 Mitarbeitende starke Jugendhilfezentrum – und spricht im Interview über Führung, Werte und die Herausforderungen der Jugendhilfe.

 

Nähe statt Distanz

Wenn Jörg Müller über Jugendhilfe spricht, wird schnell klar: Hier steht kein Verwaltungsleiter am Schreibtisch, sondern jemand, der den pädagogischen Alltag kennt – und lebt. „Wenn man selbst weiß, was es bedeutet, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, kann man ganz anders entscheiden“, sagt er. Sein Ansatz: präsent sein, zuhören, begleiten. Nicht dirigieren.

 

Die Übernahme der Leitung aus dem Inneren der Einrichtung heraus war für Müller ein Glücksfall.

„Ich habe keinen Neustart gebraucht – sondern konnte in eine Beziehungskultur hineinwachsen, die bereits tragfähig war.“

Die Übergabe durch Vorgänger Boos beschreibt er als respektvoll, vertrauensvoll – und geprägt von gegenseitiger Wertschätzung.

 

Führung mit Haltung

Als Direktor möchte Müller einen Rahmen schaffen, in dem Mitarbeitende pädagogisch wirksam sein können. „Ich sehe meine Aufgabe nicht darin, alles zu regeln, sondern dafür zu sorgen, dass die Menschen hier gute Arbeit machen können.“ Er beschreibt seinen Führungsstil als partizipativ – mit klarer Haltung, aber ohne Kontrollzwang.

 

Diese Haltung zieht sich auch durch seine fachliche Perspektive: „Wir brauchen weniger Aktionismus und mehr Beständigkeit in der Jugendhilfe. Wir müssen gut sein in dem, was wir tun – nicht ständig das Rad neu erfinden.“ Was Kinder und Jugendliche brauchen, sei vor allem eines: „verlässliche Menschen, die bleiben.“

 

Auch wenn es im Alltag mal rauer zugeht – der Kontakt zu den jungen Menschen ist Müller wichtig. „Was regelmäßig vorkommt, ist, dass die Kinder Entscheidungen, Maßnahmen oder Regelungen, die den Bernardshof betreffen, kritisch hinterfragen – oder auch Personalwechsel. Dann kommen sie zu mir ins Büro, wollen Erklärungen und suchen das Gespräch. Sie dürfen sich kritisch einbringen. Man muss da auch nicht immer einer Meinung sein – aber meine Tür steht offen. Es sind alles nahbare, herzliche und offene Kinder.“

Zwischen Ideal und Realität

Natürlich ist nicht alles Idealismus. Müller spricht offen über strukturelle Hürden:

„Wir merken, dass der Druck auf Einrichtungen wie unsere steigt. Die Anforderungen werden komplexer, die finanziellen und personellen Ressourcen knapper.“

 

Dabei richtet sich seine Kritik nicht pauschal an die Politik, sondern konkret an die engen Rahmenbedingungen: „Ich würde mir wünschen, dass der Gesetzgeber den Kostenträgern mehr Flexibilität ermöglicht – damit wir vor Ort entscheiden können, wie wir Mittel gezielt und sinnvoll einsetzen.“ Viel zu oft sei der Handlungsspielraum begrenzt, obwohl das Wissen und die Erfahrung in der Jugendhilfe vorhanden seien.

 

Verzahnung mit Schule und neue Impulse

Ein Alleinstellungsmerkmal des Bernardshofs ist die hauseigene UNESCO-Projektschule. Müller betont die enge Zusammenarbeit mit der Schule und dem Schulleiter: „Wir verstehen uns als Teil eines gemeinsamen Erziehungsraums.“ Besonders stolz ist Müller auf neue Projekte wie die „5-Tage-Gruppe“, ein vollstationäres Angebot von Sonntagnachmittag bis Freitagnachmittag für Kinder, die unter der Woche betreut werden und am Wochenende zuhause sind.

 

Auch das „Onboarding-/Offboarding“-Projekt liegt ihm am Herzen: Ein ambulantes Format, das Kinder in Übergangsphasen begleitet – etwa beim Ankommen im Heim oder der Rückkehr in die Familie.

„Solche Projekte machen einen echten Unterschied – weil sie an den Schnittstellen ansetzen, an denen oft die größten Brüche entstehen.“

 

Zusätzlich verweist Müller auf eine neue Maßnahme in Kooperation mit der Agentur für Arbeit: „Die jahrelange enge, kooperative und erfolgreiche Zusammenarbeit des Jugendhilfezentrums Bernardshof mit der Agentur für Arbeit im Bereich der integrativen Berufsausbildung junger Menschen mit Reha-Status wird ab September um die Trainingsmaßnahme AVANTI erweitert. Ziel dieser Maßnahme ist die Aktivierung junger Erwachsener für den ersten Arbeitsmarkt bzw. die Berufsausbildung. Dabei werden die Teilnehmenden an fünf Tagen pro Woche intensiv betreut und durch ein multiprofessionelles Team individuell begleitet.“

 

Langfristige Wirkung – spürbar in kleinen Momenten

Was bleibt, wenn die Kinder gegangen sind? Für Müller sind es nicht die großen Gesten, sondern oft die kleinen Rückmeldungen, die zeigen, wie wirksam Jugendhilfe sein kann. Er erzählt von seiner langjährigen Erfahrung in der Jugendhilfe – nicht im Bernardshof, aber prägend für seine Haltung: „Wenn man Jahre später zur Hochzeit eingeladen wird oder eine Dankeskarte bekommt – dann weiß man, dass man Teil eines wichtigen Wegstücks war.“

 

Diese Wirksamkeit sei schwer messbar, aber immens wertvoll.

„Es geht nicht darum, dass alles sofort funktioniert – sondern dass wir Spuren hinterlassen, die Halt geben.“

 

Blick nach vorn: Jubiläum, Visionen und die Frage nach dem Kern

2028 feiert der Bernardshof sein 100-jähriges Bestehen. Müller möchte das Jubiläum als Chance nutzen, um das Haus weiterzuentwickeln – ohne seinen Charakter zu verlieren. „Mein Ziel ist nicht Wachstum um jeden Preis, sondern Qualität, Stabilität und Menschlichkeit.“

 

Was er sich bis dahin wünscht? „Glückliche Kinder. Zufriedene Mitarbeitende. Und dass wir den Bernardshof so erhalten, wie er ist – als einen Ort, an dem Beziehung mehr zählt als Bürokratie.“

 

Er lächelt. „Es ist ein Privileg und eine Ehre für mich, hier arbeiten zu dürfen. Die Leidenschaft für diese Aufgabe ist auch nach über 30 Jahren in der Jugendhilfe ungebrochen.“